Die liebe Melanie Belitza hat eine Blogparade gestartet zum Thema „Teilzeit“ und ich nehme das zum Anlass über Arbeitszeit nachzudenken. Ich kann da vielleicht einen ganz spannenden Blickwinkel in den Ring werfen, denn ich habe NOCH NIE in Vollzeit gearbeitet.

WAS? Wird jetzt so manch einer denken. Aber es ist tatsächlich so. Außer in meinen Praktika im Studium mit einer Länge von 6 bis 12 Wochen habe ich noch niemals in einer Anstellung in Vollzeit gearbeitet und das kam so:

Ich arbeitete bereits im Bachelor-Studium als studentische Hilfskraft im Support-Team des campusweiten Lernmanagementsystem-Teams. In meinem Vertrag waren 10h/Woche vereinbart. Und diese konnte ich mir frei einteilen. Ich arbeitet von Anfang an auch recht oft von zuhause an meinem privaten Laptop. Das war der Vorteil am IT-Support, der zu Beginn hauptsächlich aus Emails beantworten bestand. Später kamen Nutzerschulungen und die Systemadministration hinzu und als das Team wuchs, trafen wir uns einmal die Woche im Hiwi-Büro des Kompetenzzentrums für Hochschuldidaktik.

Arbeiten im Uni-Teilzeit-Projekt

Als ich nach dem Studium Ende 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im agilen TUgether-Projekt mitarbeitete, bekam ich auch dort einen Teilzeitvertrag. Wer schon mal im wissenschaftlichen Betrieb gearbeitet hat, kennt das sicher: Festverträge gibt es so gut wie nie, meistens sind die Verträge 1-2 Jahre befristet auf Grund der Fördermittel und selbst für Doktoranden vergeben nur wenige Lehrstühle Vollzeitstellen. In unserem agilen Softwareentwicklungsteam hatten alle nur Teilzeitverträge zwischen 18h und 35h/Woche. Manche besaßen zwei Verträge an einem oder zwei verschiedenen Instituten/Lehrstühlen. Z.B. einen für die Promotion, einen für die Projekttätigkeit. Man kann vom wissenschaftlichen Lehrstuhlapparat und seinem Vertragssystem sicher halten was man will, in jedem Fall gibt es dort keinerlei sprachliche Trennung oder Diskussionen zwischen „Voll- und Teilzeit“-Mitarbeitern. Alle haben die freie Zeit für private Projekte, Nebenjobs, ehrenamtliche Tätigkeiten oder Familienzeit genutzt.

Wir haben in jedem Sprintplanning unsere aktuellen Stunden in den Ring geworden inkl. Urlaubsplanungen, so dass wir einen realistische Arbeitszeit-Summen-Wert für das Planen des kommenden Sprints hatten. Die Tasks der User-Stories wurden dann gemeinsam geschätzt und los ging’s. Unser Daily StandUp-Meeting fand jeden morgen um 10 Uhr statt. Da waren die frühen Vögel schon eine Weile am Schreibtisch und ein Großteil der IT-Entwickler gerade aus dem Bett gekrochen. Für Planning, Retro und andere Besprechungen gab es feste Termine, wo jeder da sein musste. Wenn ich eins in meiner Zeit als Universitäts-Mitarbeiterin gelernt habe, dann wie gigantisch und bereichernd es sein kann, selbstorganisiert in einem Teilzeit-Projekt-Team mit selbstbestimmten Arbeitszeiten zu arbeiten.

TUgether-Startseite

Der Wechsel in die Wirtschaft

Mit dem Wechsel in die Wirtschaft landete ich in einem StartUp-Projekt. Mittlerweile hatte ich ein kleines Kind und eine Vollzeitstelle kam eh nich für mich in Frage. Meine Chefin schaffte wöchentlich sicher 60h und mehr. Das Los einer Gründerin. Aber ich fing als Angestellte mit 25h/Woche an und war vollkommen zufrieden. Auch dort konnte ich selbstbestimmt von zuhause aus arbeiten und tat das leider viel zu oft in den ersten Monaten, weit über die vertraglich vereinbarten Stunden hinaus. Später hatte ich dann aber meine festen Tage mit 5h vor Ort und später auch meinen geliebten „freien Freitag“. In dieser Zeit kam mir erstmals der Gedanke, dass Teilzeit-Angestelltendasein zur Ausbeutung werden kann, wenn man sich engagiert reinhängt und auch noch zuhause „mal kurz die Mails“ checkt. Wer selbst schon mal gegründet hat, weiß dass die Grenze zwischen privat und beruflich fließend ist. Hier muss man als „Gründer-Arbeitgeber“ wohl immer wieder schauen, in wie weit man seine Mitarbeiter davor schützt oder sich selbst daran erinnert, dass diese beruflich und privat besser trennen können als man selbst.

Teilzeit arbeiten ist gold, Vollzeit nur silber

In meinen weiteren Anstellungen habe ich wieder in Teilzeit gearbeitet und in einer sogar selbstbestimmt mit 25h/Woche zu 75% remote im Homeoffice. Anders wäre es mir mit einer Fahrzeit von über einer Stunde zum Büro (eine Strecke) auch gar nicht möglich gewesen. Ich liebte dieses Modell sehr und ich musste sehr schnell feststellen:

Ich:

  • arbeite zuhause wesentlich konzentrierter
  • fühle mich zuhause wesentlich wohler (eigener Kühlschrank, eigenes WC und zur Not mal ein Nickerchen gegen Kopfweh auf dem eigenen Sofa)
  • lasse mich weniger ablenken von „Flur- und Bürotürgesprächen“
  • arbeite auch trotz leichter Krankheit (z.B. Erkältung)
  • schaffe im Homeoffice meine Aufgaben meist zu 90-100%, im Bürogebäude nur zu 50-75%, auch weil die Büro-Tage meistens für Meetings drauf gehen
  • musss mehr hinterher sein und gezielter „Kommunikations-Termine“ ausmachen bzw. habe mehr selbst initiierten Abstimmungsbedarf
  • muss aufpassen, dass ich „nicht zu viel“ arbeite und einen richtigen Feierabend einläute

Wenn man so will, habe ich also lange vor Corona bereits die Erfahrungen gemacht, die viele Mitarbeiter ganz neu ab März 2020 im Corona-Homeoffice machen mussten. Und ich habe erneut festgestellt, dass Teilzeitkräfte – und das beziehe ich nicht nur auf mich alleine – meist sehr viel fokussierter in 4-6 Stunden an ihren Aufgaben arbeiten, im Gegensatz zu Vollzeitkräften. Das konnte man sehr gut an der Bistro-Kaffeemaschine sehen, wo sich regelmäßig Trüppchen für ein Schwätzchen bildeten. Gleiches gilt/galt übrigens auch für Raucher. Deshalb wurde dann irgendwann 2018 eingeführt, dass man für Raucherpausen „ausstempeln“ muss.

Teilzeit sollte „voll“ gewürdigt werden

Noch eine Feststellung habe ich während meiner Jahre als Teilzeit-Angestellte gemacht: So richtig Sinn machen eigentlich nur zwei Arbeitsmodelle:

  1. Vertrauensarbeitszeit
  2. Arbeiten nach der Stechuhr

Gleitzeit und was es sonst noch gibt, macht keinen richtigen Sinn. Denn dann gibt es trotzdem noch das Muss der Protokollierung (und dank EUGH inzwischen auch wieder für alle) und allerlei andere in meinen Augen verkomplizierende Vorschriften, die schon lange überholt gehören. Da wäre das Arbeitszeitgesetz, dass in eine neue Form gegossen, Familienmenschen endlich „echte“ Vereinbarkeit ermöglichen würde, nämlich das Arbeiten in „Schichten“, z.B. abends, wenn die Kinder schlafen (ich habe tatsächlich mal einen „Rüffel“ vom Betriebsrat bekommen, weil ich regelmäßig nach 21 Uhr Mails geschrieben habe).

Verbunden mit der Tatsache, dass Teiltzeitmitarbeiter meistens produktiver, engagierter und (zumindest mental) mehr arbeiten als die vertragslich vereinbarten Stunden, plädiere ich dafür endlich öffentlich zu diskutieren, ob das alte Teilzeit-Vollzeit-Modell überhaupt noch zeitgemäß ist.

Denn wie schon gesagt, kann Teilzeit allein durch mentales Involvement gerne zur Ausbeutung verkommen. Warum also wird Teiltzeit nicht zum neuen „normal“? Lasse Reingans hat es vorgemacht und den 5h-Tag eingeführt. Als Expertin für (digitales) Lernen und mit dem Wissen über Konzentrationsphasen und „Flow“, weiß ich dass der 8h-Tag eigentlich reine Utopie ist. Und wissenschaftliche Studien belegen dies auch inzwischen.

Warum also nicht ein „Arbeitsgehalt“ (gerne mit Abstufungen für Verantwortungslevel oder Erfahrung) für alle? Ich schärfe: Ein Arbeitsgehalt für alle Wissensarbeiter, deren Arbeit nicht zwingend in Zeitstunden (anders als z.B. bei Pflegeberufen oder in der Gastronomie) gemessen werden muss. Arbeitszeit-Protokollierung kann der Übersicht helfen, sollte aber keine Pflicht sein. Selbstorganisation ist und bleibt eines wichtigsten der 21st Century Skills und Zukunftskompetenzen. Der Arbeitnehmer der Zukunft muss in der Lage sein, seine/ihre Arbeitszeit selbstbestimmt zu gestalten und einzurahmen. Und der Arbeitgeber muss ihn dabei unterstützen. Warum fangen wir nicht heute schon damit an?

Lasst uns das gerne auf ein nächstes Level heben und in breiter Gesellschaft diskutieren. Mit dem Blick des systemischen Coaches bin ich immer dafür, zuerst den Rahmen zu ändern, damit Menschen befähigt werden. Wenn sich ein Unternehmen oder eine Organisation da auf den Weg machen möchte, bin ich gerne dabei und unterstütze diesen Prozess.

Lasst uns gemeinsam Arbeitszeit neu denken!

Unternehmertum = Selbst und ständig? Es liegt in meiner Hand!

Zuletzt bleibt mir nur zu sagen, dass ich wahnsinnig froh und erleichtert bin, dass ich mit dem Start in die Selbstständigkeit KEINE Arbeitszeit mehr dokumentieren oder protokollieren muss. Arbeits- und Freizeit verschwimmt und ich LIEBE ES. Ich liebe was ich tue und ich tue was ich liebe, ganz im Sinne von New Work. Und ich muss mir endlich keine Gedanken mehr machen, ob das Hören des Podcasts oder das Buchlesen jetzt zur Arbeitszeit oder Freizeit gehört. Ich mache es einfach. Und ich bestimme selbst wie viel Zeit und Geld mir meine Arbeit wert ist. Für mich ist das eine große Befreiung.

Danke Melanie für diesen Denkanstoß zum Thema Teilzeit durch deine Blogparade. Ich bin gespannt auf die anderen Geschichten und Berichte. 🙂

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