Abschied von der Plandidaktik

Christof Arn schreibt in seinem Buch „Agile Hochuldidaktik“ zur Definition des Begriffs:

Wer sich auf echte Kommunikation einlässt, wird beweglich reagieren müssen
und wollen. »Agile Didaktik« bezeichnet daher treffend, was es für diese
Art des Lehrens braucht. Man könnte das Geschehen auch Co-Didaktik
oder Mit-Didaktik nennen, weil diese Didaktik überhaupt erst im Miteinander
mit den Lernenden entsteht; oder Kontaktdidaktik bzw. Begegnungsdidaktik,
weil die echte Interaktion, der tatsächliche Kontakt angestrebt
wird und elementar ist für diese Art und Weise, zu lehren; oder auch
Dialogdidaktik […]«

Arn selbst sieht die Agile Didaktik als Kontrapunkt zur bekannten Plandidaktik. Sie zeigt sich in einer starken Lernendenorientierung, also einer veränderten Haltung des/ der Lehrenden, der/ die sich auf Augenhöhe mit den Lernenden begreift. Ganz wunderbar passt hier auch das Modell der sechs Haltungen zu Lehren und Lernen, das ich selbst entwickelt habe.  In der relativierend- individualistischen Haltung und der systemisch-autonomen Haltung gelingt der Switch zum Fokus auf die Lernenden und ihre Entwicklung. Es entsteht Raum für kollaboratives, selbstgesteuertes Lernen.

Agile Didaktik nach Arn bedeutet demnach:
  • Schülerzentrierung ganzheitlich in den Blick einnehmen und fragen „Was wollt ihr zu dem Thema wissen?“
  • statt „Stoff zu vermitteln“, den Blick darauf zu richten was sich bei den Lernenden wie umformt
  • Unterricht problembasiert und projektorientiert zu denken

Haltung + Methoden

Ergänzen möchte ich an dieser Stelle auch die methodische Ebene, denn für mich kennzeichnet die agile Didaktik den Einsatz von agilen Methodiken und „Werkzeugen“ zur Strukturierung und Lernintensivierung. Das eine geht nicht ohne das andere. Eine reine „Scrumisierung“ des Unterrichts macht noch keine agile Didaktik. Und die veränderte Haltung (= Loslassen vom Planen)  braucht einen entsprechenden Rahmen. Daraus lässt sich zusammen fassen:

Agile Didaktik ist also eine veränderte Gestaltung von Lehr-/Lernsettings mit einer veränderten, Lerner-zentrierten Haltung unter der Nutzung von agilen Rahmenwerken und/ oder agilen Methoden.

Zu den Rahmenwerken, wie Design Thinking und Scrum gibt es allerlei Literatur aus dem Wirtschaftskontext. Inzwischen sind daraus auch angepasste Rahmenwerke für den Education Bereich entstanden. Barbara Hilgert und ich haben im Juli 2021 KIDS Scrum® als Framework für projektorientiertes, selbstgesteuertes Lernen in der Schule oder Ausbildung entwickelt. Auf der zugehörigen Homepage gibt es mehr Infos und das Workbook zum Download.

Neben einem ganzen Ramenwerk, können auch agile Methoden „einzeln“ eingesetzt werden um den Unterricht schülerzentrierter zu gestalten. Denn im agilen Werkzeugkoffer finden sich viele Formate, Rituale oder Prozessmethoden, die kollaborativ ausgelegt sind und den agilen Werten und Prinzipien folgen.

Agile Methoden als Werkzeug nutzen

Der agile Methodenkoffer ist groß und oft ist es schwer die passenden Methoden auszuwählen, wenn man sich nicht gleich an ein ganzes Framework wie Scrum heran wagt. Ich stelle hier deshalb agile Methoden und Mikrostrukturen vor, die relativ einfach umzusetzen sind und eine große Wirkung erzielen können:

Check-In und Check-Out

Am Anfang eines Lern- oder Projekttages ist es wunderbar mit einem Check-In zu starten. Somit wird Raum geschaffen zum Ankommen und Fokussieren auf das was kommt. Für den Check-In werden meist Fragen als Gesprächsanlass verwendet. Je nach Größe der Gruppe bekommt jeder Zeit zum Sprechen oder es wird sich in Kleingruppen ausgetauscht.

Am Ende eines Schul- oder Projekttages bietet sich der Check-Out als Moment des Innehaltens und Reflektierens an (es ist immer gut mit einem Check-Out zu enden, wenn mit einem Check-In begonnen wurde). Auch hierbei kann eine Impulsfrage als Gesprächsanlass dienen, genauso das Sammeln von „Erkenntnisperlen“ oder Irritationsmomenten.

Tolle Unterstützung dafür findet man beim Check-In Generator, Tscheck.in.

Mehr Infos zur Check-In Methode auf wissensdialoge

Kanban

Toyota hat das System schon in den 50er Jahren zur Optimierung von Produktionsabläufen entwickelt. Ziel ist es Engpässe und gleichzeitig einen zu hohen Vorrat von Produktionsmaterialien zu vermeiden, also eine Pull-Methode an die Stelle der bisherigen Push-Methode zu setzen. Dadurch wird der Workflow verbessert und Aufgaben werden in kleine Schritte zerlegt.

Wie sieht das genau aus? in Kanban wird ein Board mit drei Spalten genutzt (geplant, in Arbeit, fertig). Alle Aufgaben oder Aufträge werden auf kleine Post-Its notiert und zunächst in die „geplant“ Spalte gehangen. DIe Aufträge wandern während der Arbeitsphase nun von links nach rechts, bis sie in der finalen Spalte mit allen abgearbeiteten Karten ankommen. Zusätzlich kann man eine Priorisierung  durch so genannte „Swimmlanes“ nutzen.

Mehr zu Kanban im Bildungskontext gibt es hier:

Erfahrungsbericht einer Lehrerin zum Einsatz eines (erweiterten) Kanban-Boards

Online-Lerneinheit zu Kanban von Studyflix

3 Beispiele wie Kanban Boards auch in der Bildung funktionieren

Lean Coffee

Lean Coffee ist ein tolles Workshop-Format um „brennende“ Themen schnell zu identifizieren und nach Priorisierung der Gruppe zu besprechen. Das Format dient als im Kern der schnellen Klärung von Problemen und unterstützt die gemeinsame Lösungsfindung. Das Format erzeugt hohe Zufriedenheit und Beteiligung: Jeder wird gehört, die Gruppe bestimmt die Intensität und das Tempo.

Auch hier wird ein Board mit drei Spalten verwendet (zu besprechen, wird gerade besprochen, wurde besprochen). Nach einer Sammlung von Wunschthemen oder Ideen, werden diese gemeinsam priorisiert (Voting). Nach der Priorisierung ergibt sich meist automatisch die Reihenfolge der zu besprechenden Themen.

Merkmale von Lean Coffe ist ein eng getakteter Ablauf:

  • 3 Minuten Ideensammlung,
  • 1 Minute Voting,
  • 6+2 oder 8+2 Minuten als Timebox zur Besprechung

Mehr zum Lean Coffee Format kann man hier nachlesen:

https://t2informatik.de/wissen-kompakt/lean-coffee

https://herrka.jimdofree.com/2021/04/23/lean-lesson-planning

Retrospektive

Das Kernelement von agilem Vorgehen ist die stetige Reflexion von Zusammenarbeit und Hindernissen. Kurze Iteration verhindern dabei Fehlentwicklungen und ermöglichen eine schnelle Anpassung.

Bei der Retrospektive als Reflexionsformat steht die Teamentwicklung im Fokus. Sie verlangt eine transparente und offene Kommunikation als Basis. Das Team muss als sicherer Raum erlebt werden. Ansonsten bleibt die Rückschau an der Oberfläche und Kernprobleme werden aus Scheu oder Angst nicht angesprochen. Die Retrospektive unterstützt das stetige Lernen im Team um noch besser zu werden.

Die Timebox beträgt 1-3h je nach Länge des Sprints bzw. der gemeinsamen Arbeitsphase.

Ich habe im Zuge eines Coachings für eine Gesamtschule ein Handbuch zu Retrospektiven in der Schule erstellt. Hier kann es heruner geladen werden.

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Das war nur ein kleiner Auszug aus meinem agilen Methodenkoffer. Mehr stelle ich gerne im Rahmen einer Fortbildung vor.

Möchten Sie mehr wissen zu Unterricht oder Schulentwicklung mit agilen Methoden?

Dann lassen Sie uns gerne ins Gespräch kommen

Praxiseinblick: Agile Unterrichtsplanung

Einem Schulkollegium habe ich im September 2022 verschiedene agile Mikrostrukturen für den Unterricht vorgestellt. In Kleingruppen wurde dann gemeinsam überlegt wie bestimmte, fächerspezifische Unterrichtseinheiten durch agile Methoden und Mikrostrukturen lernerzentrieter gestaltet werden können. Die Ergebnisse des Kollegiums waren ganz vielfältig, denn jedes Fach und jedes Thema ermöglicht ganz unterschiedliche Herangehensweisen. Und jede agile Methode wiederum erfordert unterschiedliche Strukturierung.

Ergebnisse aus den Arbeitsteams waren:

  • ein Kanban-Board für die Schülerteams als Struktur für die Projektarbeit nutzen
  • Check-In als tägliches Ritual am Morgen im Klassenverband nutzen
  • Weeklys zur Abstimmung der SchülerInnen-Teams während der Arbeit an einem gemeinsamen Theaterstück
  • Retrospektiven als regelmäßiges Reflexionsinstrument am Ende einer Unterrichtseinheit einsetzen
  • die Mischung von synchronen und asynchronen Arbeitsphasen bringen Abwechslung und ermöglichen mehr selbstbestimmtes Lernen (agile Methoden also auch in Blended Learning Formaten nutzen)
Agile Unterrichtsplanung mit agilen Methoden

Fazit: Finde deinen eigenen Weg

Am Ende möchte ich allen LeserInnen gerne noch drei wichtige Erkenntisse mit auf den Weg geben:

  1. Beispiele von anderswo können den eigenen Transfer nicht ersetzen. „Weil es dort funktioniert hat, muss es bei mir/ uns auch“ gilt leider nicht. Dinge zu verändern und selbst auszuprobieren ist wichtig.
  2. Der Wunsch nach konkreten Vorlagen oder Blaupausen für den eigenen Unterricht unter Lehrkräften ist groß, aber die gibt es nicht. In Zeiten von VUCA existieren keine einfachen Antworten mehr. Und auch Schülergruppen sind heterogen. Lernende sind so vielfältig und bringen unterschiedliche Bedürfnisse mit. Hier hilft es tatsächlich das „Loslassen“ als Haltung immer wieder zu üben und dem Prozess bzw. den Lernenden zu vertrauen. Zuhören wird dabei zur wichtigsten Kompetenz für Lehrende!
  3. Selbst ausprobieren und dabei zu scheitern ist völlig ok. Das ergänzt Punkt 1 und 2 und führt dazu, dass ich Fehler willkommen heißen darf. Denn sie lassen mich als Lehrende/r lernen und mich weiter entwickeln.  Inspect & Adapt ist damit ein wichtiges agiles Prinzip, das nicht nur für Projektarbeit oder den Lernprozess gilt, sondern auch für die eigene Arbeit als Lehrende/r.

Weitere Literatur und Links:

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