In meiner Tätigkeit als Agile Coach habe ich im Jahr 2022 ganz unterschiedliche Teams bei der agilen Arbeit begleitet. In diesem Blogbeitrag möchte ich meine Erfahrungen und Eindrücke der letzten Monate wiedergeben und einen kleinen Ausblick in die Zukunft der agilen Arbeit wagen.

Entwicklung der agilen Praxis

Über 20 Jahre ist das agile Manifesto jetzt schon alt. Seitdem ist viel passiert. DIe Vorzüge von agilem, inkrementellem Vorgehen, vorwiegend in der Softwareentwicklung waren 2005/2006 auch in Deutschland angekommen. Jahr um Jahr haben sich immer mehr Unternehmen auf den Weg gemacht und agile Praktiken ausprobiert und implementiert. Vor allem die technischen Branchen waren vorne mit dabei.

War die Hauptaufgabe eines Agile Coaches also bis vor kurzem die Einführung von agilen Methoden und Werkzeugen gewesen, so stehen jetzt nach Abflachung des „agilen Hypes“, die Begleitung z.B. im Rahmen von Teamcoaching und Moderation und die Verbesserung aktueller Praktiken im Vordergrund.

Spannend in diesem Zusammenhang ist auch der State of Agile Report von Version One, der seit 2006 jährlich erscheint und einen Einblick in die Entwicklung der agilen Praktiken und Techniken in Unternehmen der USA und EU gibt.

Agil bedeutet nicht gleich agil. Die Entwicklungsstufen und Arbeitsweisen von Teams und Organisationen sind unterschiedlich. Ob schon knapp 20 Jahre agil unterwegs oder erst neu auf dem Weg: Jede Gruppe hat ihre eigenen Anforderungen und Herausforderungen im Alltag.

Agile Experts

In diesem Jahr habe ich einige Teams in der Softwareentwicklung begleitet, die schon seit 15 Jahren agil unterwegs sind. Hier gibt es meist schon einen gemeinsamen Wortschatz und das Verständnis zu den gemeinsamen agilen Praktiken und Ritualen. Diese Teams haben ihre eigene, wertschöpfende Adaption eines agilen Frameworks gefunden (z.B. eigene Variation von Scrum oder dem Spotify-Modell). Neulinge müssen aber mit ins Boot geholt werden, damit sie nicht unter gehen.

Diese agilen Experten haben manchmal das Problem der agilen „Verschleißung“, d.h. es ist im Laufe der Zeit der Sinn von agilem Vorgehen abhanden gekommen oder es wurden Praktiken „wegrationalisiert“. Oder die zunehmende remote-Arbeit hat die Teamentwicklung vergessen lassen, weil sich rein aufs Framework fokussiert wurde. Dabei brauchen remote Teams hierfür einen besonderen Fokus. In diesem Zusammenhang habe ich viele positive Erfahrungen gemacht, indem gemeinsam auf den Usprung und die agilen Werte geschaut wurde. Optimierung und Wiederauflebenlassen von Vergessenem, wie z.B. den Check-In und -Out konsequent in Meetings durchzuführen, war für die Teams besonders wertvoll.

Experienced Practioner

Teams, die schon wenige Jahre agil unterwegs sind, sind nun dabei ihre Adaption eines Frameworks zu finden und bestehende Praktiken anzupassen. Oft brauchen diese Teams noch Prozesshilfe oder Unterstützung bei der Optimierung des agilen Vorgehens. Noch öfter habe ich aber tiefgreifende Konflikte an den Schnittstellen zu anderen Bereichen oder zum Management wahrgenommen. Diese reichen von unzureichendem Verständnis oder Unterstützung für agiles Vorgehen auf Managementseite bis hin zu Konflikten innerhalb der Teams, weil der Sinn des agilen Vorgehens nicht mehr erkennbar war oder die agile Teamkultur nicht richtig gelebt wurde. Diese Teams und Führungskräfte zu unterstützen ist als Agile Coach besonders herausfordernd, weil man oft erst dazu geholt wird, wenn es „brennt“ und alleine nicht mehr weiter geht.

New Developer

Spannend finde ich, dass sich immer mehr nicht-technische Unternehmen oder Unternehmensbereiche auf den Weg machen agiles Vorgehen auszuprobieren. Hier habe ich in 2022 vor allem (soziale) Non-Profit Organisationen und Bildungsorganisationen bei ihren ersten Schritten mit Scrum, etc. unterstützt. Aber auch Human Relations war dabei. Ein Bereich, der gemeinsam mit der Organisationsentwicklung so wichtig ist für die erfolgreiche Transformation, aber in seiner Arbeitsweise bisher meist eher „klassisch“ gearbeitet hat.

Umso schöner finde ich es zu sehen, wie diese „menschennahen“ Bereiche oft die agilen Werte und Prinzipien in den Vordergrund stellen und sich nicht zu sehr an ein (mechanistisches) Vorgehensmodell klammern. In diesem Sinn bin ich als Agile Coach dazu übergegangen agile Rituale und Praktiken einzeln vorzustellen anstatt die Teams mit einem ganzes Framework wie Scrum zu „übergießen“. Durch dieses iterative Entdecken des Agilen konnte sehr schnell Mehrwert für die tägliche Arbeit generiert werden.

Agile Teams sind unterschiedlich in ihren Arbeitsweisen und Erfahrungen mit Agilität

Die Organisation im Blick

Tatsächlich kommt meinen Beobachtungen nach das Agile nun immer mehr in der gesamten Organisation an. Hierbei entstehen vor allem Reibungspunkte an den Schnittstellen zu nicht-agilen Unternehmensbereichen. Ein Beispiel: Es existieren Regeln (z.B. im Reisekostenabrechnungsprozess oder für den Wareneinkauf), die agile Werte oder Prinzipien der Zusammenarbeit hemmen.

Culture eats agile for breakfast

Auch die Unternehmenskultur spielt eine wichtige Rolle beim Erfolg des agilen Vorgehens. Ich habe in den letzten Monaten Teams begleitet, die eine tolle, agile Teamkultur für sich geschaffen haben, aber im Außen oft an die Grenzen der Unternehmenskultur gestoßen sind. Kulturelle Praktiken und Prinzipien in Organisationen sind historisch gewachsen und sehr träge. Angesichts der aktuellen Veränderungsgeschwindigkeit unserer Welt gehen diese unternehmenskulturellen Veränderungen oft zu langsam oder werden bei der Transformation ganz vergessen.

Managementsupport

Neben der Kultur ist die Unterstützung des Managements entscheidend für erfolgreiche agile Praxis. Spannenderweise kommt der Anstoß zur Veränderung oft von der Managementspitze, seltener sind agile Graswurzelbewegungen, die den Stein ins Rollen bringen. „Wir möchten agile Arbeitsweisen ausprobieren/einfrühren“ ist meistens der entscheidende Satz, der an mich als Agile Coach heran getragen wird.

Zu wenig in den Blick genommen wird oft das mittlere Management, dass jedoch ganz entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg einer agilen Transformation ist. Vorprogrammiert sind zum einen Konflikte durch die neuen Rollen und Entscheidungsprozesse. Das mittlere Management bei dieser Veränderung gut zu begleiten und in der neuen Rolle zu unterstützen ist besonders wichtig. Hierbei müssen Agile Coaches und/oder Organisationsentwicklung eng zusammen arbeiten, damit es nicht wie in den von mir beobachtbaren Fällen zu Führungskonflikten kommt.

Diese Bedeutung der Unternehmenskultur und Managementunterstützung werden durch den aktuellen State of Agile Report bestätigt:

[…] Company culture and a lack of management support are the
leading causes of unsuccessful delivery with Agile.

Wo geht die agile Reise hin?

Spannend ist der Blick in die Zukunft. Wo geht die Reise der agilen Praxis hin? Nun ich werde keinen Blick in die Glaskugel werfen, kann aber auf Basis meiner Erfahrungen zusammen fassen:

  • Der agile Hype ist vorbei und auch der remote work Hype (durch die Corona-Pandemie) erfährt eine Ernüchterung – Organisationen sind auf dem Weg eine funktionierende Adaption von bestehenden Praktiken für sich zu finden.
  • Das bedeutet hybrid ist das Stichwort der nächsten Zeit – hybrid als Kombination von Agil, Wasserfall oder iterativen Methoden.
  • Und hybrid setzt sich auch als Arbeitsmethode durch. Präsenz bleibt wichtig für Meetings und Projektarbeit, aber es wird viel mehr abgewogen ob es nicht doch remote geht. Hier stehen insbesondere die Teams vor großen Herausforderungen, deren Mitglieder sowohl lokal nah beisammen arbeiten als auch remote-Mitglieder in anderen Teilen der Welt haben.
  • Das „Verheiraten“ bzw. Zusammenbringen von unterschiedlichen Unternehmensbereichen und Arbeits- und Wertekulturen bleibt eine große Herausforderung. Hier geht es nicht nur um agil vs. klassisch. sondern auch um die Neuausrichtungen Organisationen für ein zukunftsfähiges, nachhaltiges Wirtschaften.

In diesem Zusammenhang werden wir „agil sein“ als etwas tieferes begreifen, abseits von Frameworks und Metriken. In Kombination mit Ideologien wie „regenerative Leadership“ oder Postwachstumsökonomiesehe ich da etwas am Horizont, dass agil ablösen wird und durch etwas neues, zeitgemäßeres ersetzt. Nicht als Gegenpol zu den bisherigen Entwicklungen, sondern eher als ein Neuanfang, der das Beste der agilen Welt mitnimmt.

Was kommt nach "agil"? Die Zeit ist reif für etwas neues...

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